Der neutrale Zinssatz (r*) als Referenzpunkt für die Geldpolitik - eine Betrachtung aus der Praxis
Zusammenfassung
Der neutrale Zinssatz r* - definiert als der mit einer stabilen Inflationsrate in einer mittelfristig voll ausgelasteten Volkswirtschaft einhergehende Realzins - entwickelte sich in den letzten Jahren zu einem wichtigen Referenzpunkt für die Geldpolitik. Die Differenz zwischen dem Realzinssatz und r* ist ein Mass für den geldpolitischen Kurs einer Zentralbank. Die Geldpolitik ist restriktiv, wenn der Realzins höher als r* ist, und expansiv, wenn er tiefer ist. Entsprechend hilft die Einordnung, wo sich der Realzins relativ zu r* befindet, Diskussionen über geldpolitische Optionen zu strukturieren.
r* ist jedoch nicht beobachtbar und muss anhand von Daten geschätzt werden. Diese Schätzungen unterliegen grosser Unsicherheit, was ihre Verwendung im geldpolitischen Prozess erschwert. Trotzdem wäre die Vernachlässigung von r*-Schätzungen in praktischen geldpolitischen Erwägungen ein Fehler.
Da r*-Schätzungen mit Unsicherheit behaftet sind, ist es eine wichtige Aufgabe unserer Ökonominnen und Ökonomen, eine solide Beurteilung von r* vorzunehmen. Sie leiten diese Beurteilung von einem Portfolio an verschiedenen Modellen ab und vergleichen die Resultate mit einem breiter gefassten Set von Indikatoren, um zu einem Mass für r* zu gelangen, das für die geldpolitische Entscheidungsfindung nützlich ist. Dieses Mass spielt in unseren geldpolitischen Entscheiden eine wichtige Rolle. Erstens ist es ein wichtiges Element unserer Beurteilung der aktuellen monetären Bedingungen. Andere Faktoren wie die realen Wechselkurse spielen bei der SNB allerdings auch eine wichtige Rolle für diese Beurteilung. Zweitens ist die Abweichung des Realzinses von r* essenziell für unsere Inflationsprognose und somit auch für die Ermittlung des mittelfristigen Inflationsdrucks.
Die Unsicherheit, mit der die r*-Schätzungen behaftet sind, kann bis zu einem gewissen Grad reduziert, aber nicht komplett beseitigt werden. Unser geldpolitischer Risikomanagement-Ansatz anerkennt die Unsicherheit und gibt vor, dass geldpolitische Entscheide für verschiedene Szenarien angemessen sein müssen. Unsere Entscheide orientieren sich letztlich an unserem Mandat, der Gewährleistung der Preisstabilität.